Das Verhältnis zwischen OEM und Zulieferer befindet sich im Wandel, so viel ist klar. Einer, der es genau wissen muss, ist VDA-Professor Robert Dust. Im Interview verrät er, wie der Wandel sich vollzieht, was Google und Apple damit zu tun haben, und: Was ist eigentlich Qualität?

Professor Dust, seit 2014 sind Sie Stiftungsprofessor des Verbandes der Automobilindustrie. Ihr Fachgebiet an der TU Berlin nennt sich „Qualitätsstrategie und Qualitätskompetenz", aber: Was ist eigentlich Qualität?

Der Qualitätsbegriff, wie er in der Norm steht, ist sicher veraltet. Er stammt aus einer Zeit, in der wir über Gegenständlichkeiten gesprochen haben, über Dinge, die man anfassen kann. In Zukunft wird sich dieser Begriff in die Datenwelt verlagern. Den klassischen Soll-Ist-Ver­gleich gibt es dann nicht mehr. Früher kam das Soll vom produzierenden Unternehmen, künftig ist es branchenübergreifend und kundenorientierter. Es wird ganz neue Partnernetzwerke geben, in denen der Autobauer gar nicht mehr in Gänze den Einfluss hat auf sein Produkt. Nehmen wir z. B. Google: Einem Lieferanten Google wird man kein Lastenheft mehr geben können. Man hat de facto gar keinen Einfluss darauf, wie Google im Auto zu funktionieren hat und nach welchen Qualitätskriterien. Kurzum: Der Qualitätsbegriff wird sich wegbewegen von der rein physischen, unternehmerischen Betrachtung zu einer sehr stark kundenorientierten. Die Frage danach, was der Kunde will, ist wichtiger denn je, weil der Kunde heute sehr viel schneller selbst aktiv wird und sich nicht mehr vorschreiben lässt, was Qualität zu bedeuten hat.

Was wird aus dem klassischen Lieferanten, der einfach nur seine Teile verkaufen will?

Der wird nicht von heute auf morgen aussterben. Sicher wird es weiterhin beide Seiten geben: Den konventionellen Lieferanten, der Komponenten liefert, und jene Art von Lieferanten, die mit neuen Produkten und Dienstleistungen, z. B. mit Software, ihr Geld verdient. Aber was sind denn die Geschäftsmodelle der Zukunft? Ziehen Sie einmal die Analogie zur Unterhaltungselektronik – mit Laptops, Monitoren und Tastaturen wird heute kein Geld mehr verdient. Das große Geld bringen Software und der intelligente Umgang mit Daten.

Wie verändert sich dadurch das Verhältnis zwischen Kunde und Lieferant?

Den mächtigen Automobilhersteller, wie wir ihn kennen, wird es weiter geben. Genauso den Zulieferer, der sein Glück darin sucht, allein mit Produkten für den großen OEM sein Geld zu verdienen. Doch auch Zulieferer konsolidieren heu­te immer stärker und können so mehr Macht ausüben. Mit einem Systemlie­feranten beispielsweise muss ein OEM ganz anders kommunizieren als mit einem mittelständischen Schraubenher­steller. Das gilt aber auch andersherum. Ein Chemiekonzern, der einmal jährlich eine Tonne Granulat liefert, ist sicher wenig interessiert daran, sich vom Auto­bauer unter Druck setzen zu lassen.

Total Supplier Management lautet eines Ihrer Spezialgebiete. Was ist darunter zu verstehen?

Es ist bekannt, dass die externe Wertschöpfung durch Lieferanten heute bei bis zu 90 Prozent liegt. Wenn man als Automobilhersteller dann schlechte Qualität geliefert bekommt, kann man nicht mehr viel tun, weil man eben nicht selber produziert, sondern nur integriert. Es stellt sich also die Frage: Wie steuere ich mein Lieferantennetzwerk? Wenn wir heute sehen, wie Unternehmen die Lieferkette steuern, dann landen wir ganz schnell bei Tools wie Excel. Damit schaut man jedoch immer nur in die Vergangenheit. Das ist kein Risikomanagement, wie ich es verstehe. Es fehlen der präventive Ansatz und der ganzheitliche Ansatz. Wer Total Supplier Management betreiben möchte, muss alle Lieferanten überwachen und nicht nur die berühmte Top-50.

Was muss sich ändern?

Schon heute ist es möglich, mit Trends und Prognosen zu arbeiten. Die entsprechenden Modelle gibt es bereits. Man muss sie nur anwenden. Da sind wir auch wieder beim Lieferanten von nicht-physischen Produkten. Die Software von Google oder Apple wird nicht an die Rampe geliefert, man muss nehmen, was geliefert wird. Das Ergebnis erlebt man erst, wenn es schon im Auto, direkt beim Kunden ist. Dieser Lieferant ist dann kein Lieferant mehr, sondern ein Partner auf Augenhöhe, mit dem man zusammenarbeiten muss.

Partner, die es früher nicht gab.

Richtig, und es gibt weitere Beispiele: Nehmen Sie die Ladeinfrastruktur für die neue Elektromobilität. Wer bringt die Ladesäulen denn auf die Autobahnraststätten? Der Autohersteller? Die Ladesäule befindet sich außerhalb des Autos und trotzdem kann man nicht auf sie verzichten. Oder denken Sie an Content-Provider, z. B. Karten- und Navigationsdienste. Irgendjemand muss sich auch darum kümmern. Und die Automobilindustrie tut gut daran, sich hier selbst zu engagieren, bevor es andere machen. Auch wenn es über die klassischen Geschäftsfelder hinausgeht. 

Was läuft noch falsch im Lieferanten­management?

Die meisten Unternehmen sammeln schon heute deutlich mehr Daten als sie überhaupt auswerten können. Es braucht keine Tools, die nur Tortendia­gramme produzieren, sondern solche, die wirklich Wissen generieren. Vielen fehlt es an intelligenter Datenauswer­tung obwohl es die Algorithmen dafür bereits gibt. Darüber hinaus hinter­fragen viel zu wenige Unternehmen: Warum mache ich das überhaupt? Risikomanagement bedeutet nicht, Daten in eine Ampel zu bringen, son­dern zu hinterfragen, was passiert, wenn die Ampel rot ist. Welche Maßnahmen ergreife ich dann? Viele messen nur das Risiko und freuen sich, dass sie es gemessen haben. Das aber führt nur zur deutschesten aller Fragen: Wer ist schuld? Unsere Studien besagen, dass es durchaus nicht immer am Lieferan­ten liegt.

Das heißt, die Daten sind da, aber man nutzt sie nicht richtig?

Daten gibt es schon heute mehr als genug, aber natürlich scheitert vieles schon mit der Datenqualität. Hier am Lehrstuhl haben wir einen sogenannten Datenchecker entwickelt. Damit konn­ten wir nachweisen, dass ungefähr die Hälfte der gesammelten Daten nicht valide ist. Das heißt nicht unbedingt, dass diese Daten falsch sind, aber unter Umständen, dass sie einfach nicht zu gebrauchen sind.

Ein Beispiel?

Viele Unternehmen messen die Anzahl der Reklamationen. Diese Größe eignet sich jedoch nicht für Trend- und Prognoseberechnungen, weil es keine Basis­kennzahl ist. Wenn ich im Januar zehn und im Februar fünf Reklamationen habe, könnte man meinen, es sei besser geworden. Wenn ich von den im Februar reklamierten Teilen jedoch insgesamt nur fünf Teile erhalten habe, habe ich eine Ausfallquote von 100 Prozent; wenn im Januar tausend Teile geliefert wurden, liegt die Ausfallquote bei einem Prozent. Das zeigt, dass so eine Kenn­zahl nicht geeignet ist, um Trend- und Prognoseaussagen zu treffen. Deshalb ist es eine Grundvoraussetzung, erst einmal seine Daten auf Vordermann zu bringen. Es gibt viele Daten, die man gebrauchen kann, aber auch sehr viele, bei denen man sich fragen muss: Wofür habe ich die überhaupt?

Also ist eigentlich alles da, was man braucht?

Natürlich gibt es auch viele Daten, die noch fehlen. Ebenso gibt es sinnvolle Kennzahlen, für die es aber heute noch keinen Algorithmus gibt. Für alles gibt es Beispiele: zu viele Daten, zu weni­ge Daten oder Daten, die ganz fehlen. Wichtig ist, das überhaupt festzustellen, um eine entsprechende Analyse durch­zuführen. Erst wenn die Datenqualität stimmt, kann man intelligente Algorith­men mit seinen Daten zur Anwendung bringen. Eine valide Datenbasis ist die Grundlage dafür, damit eine IT-Lösung überhaupt zielführend implementiert werden kann.

Das klingt nach guten Aussichten für die Softwarebranche. Professor Dust, vielen Dank für das Interview.

Gerne.

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